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Dienstag, 19. Juni 2012

Anträge im Organstreit „ESM/Euro-Plus-Pakt” erfolgreich


Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -

Pressemitteilung Nr. 42/2012 vom 19. Juni 2012
Urteil vom 19. Juni 2012
2 BvE 4/11



Anträge im Organstreit „ESM/Euro-Plus-Pakt” erfolgreich
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem heute verkündeten Urteil die Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für begründet erachtet, mit denen die Antragstellerin eine Verletzung der Unterrichtungsrechte des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem Euro-Plus-Pakt geltend macht. Über den Sachverhalt informiert die Pressemitteilung Nr. 72/2011 vom 11. November 2011. Sie kann auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen werden. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag sowohl im Hinblick auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus als auch hinsichtlich der Vereinbarung des Euro-Plus-Paktes in seinen Unterrichtungsrechten aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat. Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: I. Prüfungsmaßstab 1. Art. 23 GG räumt dem Deutschen Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union weitreichende Mitwirkungs- und Informationsrechte ein. Die stärkere Einbindung des Parlaments in den europäischen Integrationsprozess dient dem Ausgleich der mit der Europäisierung verbundenen Kompetenzverschiebungen im nationalen Gewaltengefüge zugunsten der mitgliedstaatlichen Regierungen. Zu den Angelegenheiten der Europäischen Union gehören Vertragsänderungen und entsprechende Änderungen auf der Ebene des Primärrechts (Art. 23 Abs. 1 GG) sowie Rechtsetzungsakte der Europäischen Union (Art. 23 Abs. 3 GG). Um eine Angelegenheit der Europäischen Union handelt es sich auch bei völkerrechtlichen Verträgen, wenn diese in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen. Wann ein solches Verhältnis vorliegt, lässt sich nicht anhand eines einzelnen abschließenden und zugleich trennscharfen Merkmals bestimmen. Maßgebend ist vielmehr eine Gesamtbetrachtung der Umstände, einschließlich geplanter Regelungsinhalte, -ziele und -wirkungen, die sich, je nach Gewicht, einzeln oder in ihrem Zusammenwirken als ausschlaggebend erweisen können. 2. Die in Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG geregelte Pflicht der Bundesregierung, den Deutschen Bundestag umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten, soll dem Bundestag die Wahrnehmung seiner in Art. 23 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Rechte auf Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union ermöglichen. Die Unterrichtung muss dem Bundestag eine frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung eröffnen und so erfolgen, dass das Parlament nicht in eine bloß nachvollziehende Rolle gerät. Zudem hat die Auslegung und Anwendung des Art. 23 Abs. 2 GG dem Umstand Rechnung zu tragen, dass diese Bestimmung auch dem im Demokratieprinzip verankerten Grundsatz parlamentarischer Öffentlichkeit dient. a) Das Erfordernis einer umfassenden Unterrichtung ist seiner Funktion gemäß so auszulegen, dass eine umso intensivere Unterrichtung geboten ist, je komplexer ein Vorgang ist, je tiefer er in den Zuständigkeitsbereich der Legislative eingreift und je mehr er sich einer förmlichen Beschlussfassung oder Vereinbarung annähert. Daraus ergeben sich Anforderungen an die Qualität, Quantität und Aktualität der Unterrichtung. So erfasst die Pflicht zur umfassenden Unterrichtung nicht nur Initiativen und Positionen der Bundesregierung selbst sowie Gegenstand, Verlauf und Ergebnis der Sitzungen und Beratungen von Organen und Gremien der Europäischen Union, in denen die Bundesregierung vertreten ist. Die Unterrichtungspflicht erstreckt sich vielmehr auch auf die Weiterleitung amtlicher Unterlagen und Dokumente der Organe, Gremien und Behörden der Europäischen Union und anderer Mitgliedstaaten. b) Dem Zeitpunkt der Unterrichtung kommt eine ihrem Umfang gleichrangige Bedeutung zu. Die in Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG genannte Zeitvorgabe „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ ist dahin auszulegen, dass der Bundestag die Informationen der Bundesregierung spätestens zu einem Zeitpunkt erhalten muss, der ihn in die Lage versetzt, sich fundiert mit dem Vorgang zu befassen und eine Stellungnahme zu erarbeiten, bevor die Bundesregierung nach außen wirksame Erklärungen, insbesondere bindende Erklärungen zu unionalen Rechtsetzungsakten und intergouvernementalen Vereinbarungen, abgibt.

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