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Sonntag, 8. September 2013

Der Schutz elementarer Menschenrechte ist längst neben das Gewaltverbot getreten - und ein Angriff auf Syrien zum Schutz der Opfer daher zulässig.


Syrien-AngriffEingreifen erlaubt

 ·  Der Schutz elementarer Menschenrechte ist längst neben das Gewaltverbot getreten - und ein Angriff auf Syrien zum Schutz der Opfer daher zulässig.
Glaubt man den meisten Äußerungen deutscher Völkerrechtslehrer zu einem Militärschlag gegen Syrien, könnten sich die Gewalthaber in Damaskus und anderswo in der Welt bei ihrem Treiben im Schutz des völkerrechtlichen Gewaltverbots wähnen: Dann wäre der Schutz der territorialen Souveränität nach der UN-Charta vor dem gewaltsamen Vorgehen anderer Staaten (Artikel 2 Nr. 4) absolut, solange der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht zu einem militärischen Eingreifen ermächtigt. Ein Veto Russlands oder der Volksrepublik China im Sicherheitsrat würde einen unübersteigbaren Schutzzaun um massive Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Völkermord oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen errichten.
Allerdings haben neuere Entwicklungen dafür gesorgt, dass sich im Völkerrecht andere Grundsätze Bahn brechen, die den Schutz einer geschundenen Bevölkerung nicht mehr allein dem Sicherheitsrat überlassen. Ebendiese Grundsätze stehen hinter der völkerrechtlichen Diskussion um die humanitäre Intervention als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund für militärische Einsätze außerhalb eines Sicherheitsratsmandats.
Der Schutz elementarer Menschenrechte vor systematischer Verfolgung ist als Grundwert in der Völkerrechtsordnung längst neben das Gewaltverbot getreten. Die Menschenrechte bilden nicht nur ein Leitthema der UN-Charta. In ihrem Kern gehören die Menschenrechte ebenso wie der Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zum zwingenden Völkerrecht und damit zum Fundament der gesamten internationalen Ordnung. Die innere Konsistenz dieser Ordnung verlangt eine Relativierung des Gewaltverbotes, sei es durch Beschränkung der territorialen Souveränität, eine Ausweitung des kollektiven Selbstverteidigungsrechts zugunsten geschundener Bevölkerungsteile oder eine offene Abwägung. Eine breite Strömung der Völkerrechtslehre, aber auch eine Reihe westlicher und anderer Regierungen hat schon vor der humanitären Intervention im Kosovo-Konflikt bei Völkermord und ähnlich schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen einseitige Schutzgewährung durch militärische Gewalt als gerechtfertigt angesehen.
Die etwa zwanzig Nato-Staaten, die sich im Frühjahr 1999 am militärischen Schutz der albanischen Minderheit gegen serbischen Terror beteiligt haben, stehen seit jeher der völkerrechtlichen Wertordnung als Handlungsmaxime näher als die meisten Regierungen, welche die Intervention aus humanitären Gründen kategorisch ablehnen - oft genug aus Angst um den Bestand der eigenen Gewaltherrschaft. Auch wenn die damalige rot-grüne Bundesregierung keinen „Präzedenzfall“ schaffen wollte, hat sie genau dies mit ihren Partnern getan. Inzwischen behauptet kaum noch jemand ernsthaft, die damalige Bundesregierung habe einen „Angriffskrieg“ (der nach Artikel 26 des Grundgesetzes verboten ist) unternommen. Selbstverständlich sind Besorgnisse um einen Missbrauch der humanitären Intervention als Eingriffstitel ernst zu nehmen; sie stehen auch hinter einer immer wieder zitierten Erklärung der zahlreichen „blockfreien“ Staaten. Aber das Verständnis der völkerrechtlichen Wertordnung darf nicht vom möglichen Missbrauch her gedacht werden.
Auf einer anderen, politischen Ebene liegen bei jeder militärischen Intervention die Folgenabschätzung und die Frage nach tauglichen „Partnern“ der handlungswilligen Staaten. Im Lichte der bisherigen Erfahrungen - vom Kosovo über Libyen bis jetzt zu Syrien - liefert eine parlamentarische Zustimmung heilsame Erklärungszwänge.
Trotz aller Kontroverse bietet die Völkerrechtsordnung für eine Rechtfertigung der humanitären Intervention als „ultima ratio“ eine tragfähige Basis. Damit ist auch keine beliebige Rechtfertigung einseitiger Gewaltmaßnahmen verbunden. Denn stets bleibt die vorrangige Zuständigkeit des Sicherheitsrates als Garant des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu respektieren. Erst wenn dieses Weltdirektorium wegen einer Blockade einzelner Vetomächte trotz einer klar nachgewiesenen Bedrohungslage versagt, kommt eine einseitige humanitäre Intervention in Betracht. Nicht jeder Völkerrechtsverstoß, sondern nur Genozid, systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit und elementare Missachtungen des humanitären Völkerrechts in inneren Konflikten (wie in Syrien) rechtfertigen eine Durchbrechung des Gewaltverbotes. In diesen Voraussetzungen berührt sich die humanitäre Intervention mit dem modernen Konzept der Schutzverantwortung (responsibility to protect). Liegen die Voraussetzungen der humanitären Intervention vor, können die handlungswilligen Staaten (anders als sonst in Bürgerkriegen) auch Aufständische mit Waffen versorgen.
Ein Regimewechsel ist kein legitimes Ziel einer humanitären Intervention (wenn auch oft genug deren Folge). Bei der humanitären Intervention geht es auch nicht um Vergeltung oder Bestrafung, auch nicht um „Gerechtigkeit“, sondern nur um Schutz. Das droht eine unbedachte Sanktionsrhetorik zu verdunkeln. „Chirurgische“ Militärschläge müssen wirklich dem Schutz der Verfolgten dienen, und sei es auch durch Abschreckung.
Für die Rechtfertigung einer humanitären Intervention ist es unerheblich, ob ein Regime die Vernichtung der eigenen Bevölkerung auch noch mit geächteten Waffen verfolgt. Aber der Einsatz von Giftgas hat eine eigene Qualität. Er ist nicht nur in völkerrechtlichen Verträgen, sondern auch nach Gewohnheitsrecht verboten. Im syrischen Bürgerkrieg bildet der Einsatz von Giftgas durch die Regierung einen zielgerichteten Angriff gegen die eigene Zivilbevölkerung und zugleich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Auf einer anderen Ebene liegt die aktuelle, höchst problematische Bemühung des Rechts auf Selbstverteidigung gegen Terrorangriffe mit chemischen Waffen. Selbstverteidigung kann präventive Maßnahmen allenfalls decken, wenn der Zerfall staatlicher Gewalt den Zugriff von angriffsbereiten Terrororganisationen auf Massenvernichtungspotentiale und eine sofortige Dislozierung unmittelbar befürchten lässt. Erst dann schließt sich wohl auch das Zeitfenster für eine effektive Abwehr im Vorfeld von Anschlägen. Wie weit Selbstverteidigung militärische Abwehr im Vorfeld eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs rechtfertigt, ist außerordentlich umstritten. Jedenfalls bei Terrorattacken dürften hier die Rechtspositionen aller großen Mächte nahe beieinanderliegen.
Noch ist in Deutschland der Chor derjenigen Rechtslehrer stark, die das Gewaltverbot als den alleintragenden Schlussstein in der Architektur der Völkerrechtsordnung sehen. Hier wirkt - einseitig, aber durchaus verständlich - die Last der Geschichte in souveränitätsschonender Zurückhaltung gegenüber militärischen Optionen nach: Die äußere Befriedetheit der Staatenwelt steht dabei über dem inneren Frieden. Die Prämie auf den Machtbesitz (“im Zweifel für den Frieden“) bedeutet dann eben auch die Schutzlosigkeit der Opfer. Hinzu kommt das wissenschaftliche und politische Biotop einer gewissen Behütetheit als Hintergrund der Argumentation. In Washington, London oder Paris schärfen Eigenverantwortlichkeiten, selbst diagnostizierte Risiken und eigene Reaktionsmöglichkeiten das Sensorium für rechtliche Komplexität. Aber auch im übrigen Europa geht die behagliche Behaustheit in einfachen Gewissheiten ihrem Ende zu. Dies gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für die sie begleitende Völkerrechtslehre (die natürlich auch in anderen Ländern ein Haus mit mancherlei Wohnungen ist.
Immerhin spricht auch die vom absoluten Gewaltverbot geleitete Doktrin seufzend vom „Dilemma zwischen Recht und Moral“. Eine Handlungsanleitung liefert dieser juristische Offenbarungseid nicht. Es ist für die Handelnden unter Einschluss der Soldaten wenig hilfreich, wenn man ihr Tun als völkerrechtswidrig, aber „moralisch“ oder „legitim“ einstuft. Wenn es überhaupt eine internationale „Moral“ gibt, muss sie sich mit den Grundwerten der Völkerrechtsordnung decken. Auch beim Schutz dieser Grundwerte können Recht und Moral keine getrennten Wege gehen.
Professor Dr. Matthias Herdegen ist Direktor des Instituts für Völkerrecht der Universität Bonn.
Quelle: F.A.Z.

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