Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Samstag, 28. Februar 2015

Regimekritiker Wer tötete Boris Nemzow? Er war einer der Führer der Opposition, vier Kugeln trafen ihn in den Rücken. Der Kreml hatte ihn als Verräter diffamiert. Nun verspricht Putin Aufklärung.


RegimekritikerWer tötete Boris Nemzow?

Er war einer der Führer der Opposition, vier Kugeln trafen ihn in den Rücken. Der Kreml hatte ihn als Verräter diffamiert. Nun verspricht Putin Aufklärung.

© APVergrößernDie Spuren zerfliessen: Ein russischer Polizist neben der Stelle, an der Boris Nemzow in Moskau erschossen wurde
Die Brücke über den Moskau-Fluss ist an diesem Morgen, keine zehn Stunden nach dem Mord an Boris Nemzow, ein trüber Ort: Regentropfen, Böen, Pfützen. Wenige Meter von der Stelle entfernt, an der vier Kugeln einen der Führer der russischen Opposition in den Rücken trafen, ragen die Kuppeln der Basilius-Kathedrale in den grauen Himmel. Die Stelle, wo Nemzows Leichnam lag, ehe er in einer schwarzen Plane abtransportiert wurde, ist mit einem orange-weißen Verkehrshut markiert. Er steht da wie ein Warnsignal an einer Unfallstelle. Auf dem Kegel steckt ein Foto: Nemzow mit Lesebrille vor einem seiner Berichte über Reichtümer des russischen Präsidenten. „Das Leben des Galeerensklaven“ heißt der – so hatte sich Wladimir Putin in Anbetracht seiner Mühen an der Staatsspitze selbst genannt.
Über Verkehrshut und Brückenbrüstung hinweg können die Leute, die an den Tatort gekommen sind, die Ziegelmauer und die Türme des Kreml sehen. Bei Sonne strahlen sie rot, fast grell. Jetzt leuchten nur die Blumen, die Trauernde bringen. Rosen, Nelken, auch ein paar Sonnenblumen. Der Strom von Menschen, die Blumen niederlegen, reißt nicht ab. Und so bildet sich eine Wand von Blumen um den Verkehrshut. Wie ein Schutzwall. Ein Symbol der Achtung vor Boris Nemzow. Und ein Symbol der Hilflosigkeit gegenüber dem Kreml.

Ein Mann „ohne Krawatte“ – volksnah und hemdsärmelig

Freunde und Weggefährten des Oppositionspolitikers sind an den Tatort gekommen. Ein alter Mann mit Mütze und abgewetzter blauer Jacke blickt auf das Foto. Er sagt, er sei Mitglied in Nemzows „Republikanischer Partei Russlands – Partei der Volksfreiheit“. Die Partei mit dem umständlichen Namen war der letzte von vielen Versuchen Nemzows, in seiner Heimat für liberale Ideen, saubere Wahlen und gegen Korruption zu kämpfen. Fragt man den alten Mann, wie Nemzow war, sagt er als Erstes: „Er war mutig.“ Dann kommen Wörter wie: kompromisslos. Geradeheraus. Und: „Kein Faschist.“ Das hebt der Mann hervor, weil Nemzow im Kremlrussland zuletzt als „Verräter“ galt, als Teil einer „fünften Kolonne“ des Westens, die Faschisten in der Ukraine unterstütze. Nemzow sei, erinnert sich der Parteigenosse, ein Mann „ohne Krawatte“ gewesen. Volksnah und hemdsärmelig. Und ohne Leibwächter.
Mehr zum Thema
So auch in seiner letzten Nacht, als Nemzow über diese Brücke ging, begleitet von seiner jungen ukrainischen Lebensgefährtin. Kurz zuvor hatte er ein Radiointerview gegeben. Auf Echo Moskwy, dem Sender, in dem russische Oppositionelle noch zu Wort kommen, sprach er von „Putins unsinniger Aggression“ gegen die Ukraine und den Zusammenhang mit Russlands Wirtschaftskrise. Über den Fluss liefen Nemzow und seine Begleiterin nach Süden. In die Richtung, in der das Büro von Nemzows Partei und seine Wohnung liegen. Aus einem weißen Auto, so die Ermittler, sei mindestens sieben Mal auf den Politiker geschossen worden. Vier der Kugeln trafen ihn in den Rücken. Er starb sofort. Die Frau blieb unverletzt.
33270076© AFPVergrößernDer Tatort in unmittelbarer Nähe des Kreml
Ein Mann bahnt sich den Weg durch die Menge der Kameramänner, hält vor dem Foto von Nemzow inne und schlägt die Hände vors Gesicht. Er sei ein langjähriger Freund, sagt er. Auch er erzählt von dem Toten. Vor allem von dessen Feldzug gegen die herrschende Clique um Putin. „Er war ein echter Politiker“, sagt der Freund. Nicht so einer wie diejenigen, die nun in der Duma säßen: Vasallen der Macht, die nur auf den eigenen Vorteil schauten. Ob er denn keine Angst habe, habe er Nemzow einmal gefragt. „Er klopfte mir auf die Schulter und sagte: Wenn sie mich töten wollen, töten sie mich.“

„Er hat viele gestört“

Nemzows Tod, sagt der Mann, sei für viele von Vorteil. „Er hat viele gestört.“ Nemzow habe „keine Angst vor dem Sumpf“ gehabt. „Er starb für die Wahrheit.“ Nemzow nannte Zahlen und Namen, die das Ausmaß von Korruption und Misswirtschaft in Russland verdeutlichen sollten. Immer wieder zielte er auf Putin persönlich. Etwa in seinem Bericht „Putin. Bilanz von zehn Jahren“ aus dem Jahr 2010. Er schloss mit den Worten: „Putin, das ist Korruption, Zensur, Rohstoffabhängigkeit Russlands, soziale Ungleichheit, Entvölkerung.“ Die „Entputinisierung“ Russlands sei die „einzige Chance, das Land aus der Sackgasse zu ziehen“.
Durchsuchungen bei Oppositionsführern in Moskau© DPAVergrößernDer Oppositionspolitiker Boris Nemzow bei einer Demonstration gegen Putin 2012 in Moskau.
Nemzow wurde 1959 in Sotschi geboren. Er studierte Mathematik und Physik. Zu sowjetischer Zeit arbeitete er daran mit, eine Antwort auf das amerikanische Programm „Krieg der Sterne“ zu entwickeln. Später, zur Zeit der Perestrojka, sprach er sich öffentlich gegen den Bau eines Atomkraftwerkes in Nischnij Nowgorod aus, wo er mittlerweile wohnte. Nicht aus grundsätzlichen Erwägungen gegen Atomkraft, sondern weil die Leitungen der Stadt zu marode waren. So begann seine politische Karriere. Mit Anfang 30 wurde er Gouverneur von Nischnij Nowgorod, Anfang der neunziger Jahre. Er privatisierte die ersten Kolchosen und Sowchosen. Nemzow wurde zum Jungstar, international gefeiert, er holte Investitionen in die Region.
Er sammelte auch eine Million Unterschriften gegen den ersten Tschetschenien-Krieg. Dennoch holte ihn der damalige Präsident Boris Jelzin 1997 als stellvertretenden Ministerpräsidenten nach Moskau. Nemzow erzählte später, Jelzin habe eingesehen, dass der Krieg ein Fehler war. Als „einen Sohn“ habe der Präsident ihn gesehen. Dennoch verlor Nemzow schon im Jahr darauf seinen Regierungsposten. Als Jelzin dann Putin zu seinem Nachfolger bestimmte, lobte Nemzow diesen zunächst als bestmögliche Wahl. Später bezeichnete er das als Fehler.

Image eines lausbubenhaften „Rebellen“

Er kritisierte nicht nur Putins Politik, sondern auch die Person – aus eigener Anschauung. Etwa das Verhalten des Präsidenten bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002. Damals wurden 129 Geiseln getötet, die meisten durch ein Gas, das die Sicherheitskräfte vor dem Sturm in das Gebäude geleitet hatten. In seinem Buch „Beichte eines Rebellen“ schilderte Nemzow fünf Jahre danach die Situation vor dem Sturm: Die tschetschenischen Geiselnehmer hätten darauf bestanden, mit ihm sowie mit dem damaligen Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow zu verhandeln.
Putin habe sie aber beide persönlich gebeten, es nicht zu tun. Sie hätten sich gefügt, schließlich sei Putin als Präsident der Verantwortliche gewesen. Später habe ihm, schrieb Nemzow, der damalige Leiter der Präsidialverwaltung gesagt, warum: Der Präsident habe vermeiden wollen, dass Nemzow und Luschkow bei den Wählern beliebter würden. Selbst in diesem „für das Land tragischen Moment“ habe Putin ständig an sein „Rating“ gedacht, schrieb Nemzow. „Das werde ich nie verstehen.“
2003 verlor er seinen Sitz im Unterhaus des Parlaments, der Duma. Immer mehr entwickelte sich Nemzow zu einem der Wortführer der außerparlamentarischen Opposition. Er kultivierte, auch in derber Sprache, das Image des unerschrockenen, vitalen, lausbubenhaften „Rebellen“, der die Mächtigen herausfordert. Auf kaum einer Demonstration fehlte er. 2013 errang er noch einmal ein Mandant im Regionalparlament von Jaroslawl – so wurde er dann auch auf Veranstaltungen angekündigt, wie ein trotziges Understatement: „Es spricht der Abgeordnete aus Jaroslawl ...“
Im Herbst vorigen Jahres versuchte Nemzow, ein neues Bündnis der Oppositionsparteien zu schmieden: „Für eine europäische Wahl“, gegen Putins demonstrative Hinwendung nach Osten, nach China. Da war Nemzow schon gegen die Annexion der Krim und gegen den unerklärten Krieg mit der Ukraine eingetreten. Er sagte seine Meinung offen: Putin habe „Angst vor einer Wiederholung des Majdan in Moskau“, daher müsse er zeigen, dass eine Revolution im Chaos ende. Seine Mutter, sagte Nemzow erst vor zweieinhalb Wochen in einem Interview, bitte ihn ständig, aufzuhören, über Putin zu fluchen: „Er wird dich töten!“ Ein wenig fürchte er das auch, sagte Nemzow. „Aber wenn ich große Angst hätte, würde ich keine Oppositionspartei führen, würde ich nicht das tun, was ich tue.“

„Ohne Hoffnung geht es nicht“

Auf der Brücke über dem Moskau-Fluss blicken die Trauernden auf das Blumenmeer. Traurig und fassungslos. Es ist, als wäre der Krieg im Herzen ihrer Stadt angekommen. „Ich dachte, die Zeit der Liquidierungen auf offener Straße wäre vorbei“, sagt der Freund Nemzows und meint die neunziger Jahre. Es mangelt nicht an Trauer- und Beileidsbekundungen. Auch aus dem Lager der Macht, sogar von höchster Stelle, von Putin persönlich. Es werde alles getan, um die „Organisatoren und Ausführenden dieses gemeinen und zynischen Mordes“ zur Verantwortung zu ziehen, heißt es in einem Beileidstelegramm an die Mutter Nemzows, dessen Wortlaut der Kreml veröffentlicht.
People gather at the site where Boris Nemtsov was recently murdered, in central Moscow© REUTERSVergrößernNahe dem Tatort versammeln sich am Samstagabend zahlreiche Trauernde.
In ersten Hypothesen spricht das Ermittlungskomitee von einer möglichen „Provokation“ zur „Destabilisierung“ der Lage im Land, mit Nemzow als „sakralem Opfer“. Man prüfe auch eine „islamisch-extremistische Spur“: Nemzow sei wegen seines Eintretens für die Karikaturen von „Charlie Hebdo“ bedroht worden. Man prüfe ferner einen geschäftlichen oder persönlichen Hintergrund. In Betracht komme aber auch ein Bezug zur Ukraine: „Es ist kein Geheimnis, dass es auf beiden Seiten des Konflikts sehr radikale Personen gibt, die sich keinerlei Staatsgewalt unterordnen.“
Später wird eine „Quelle in den Sicherheitskräften“ mit der Aussage zitiert, vieles spreche für „rechtsextreme Radikale“ als Täter, die sowohl die Regierung als auch die Opposition als Gegner sähen. Auf genau jene „Radikalen“ setzt freilich der Kreml in der Ostukraine und bietet ihnen seit einem Jahr eine Art Abenteuerspielplatz samt Waffen, großrussischer Ideologie und Beweihräucherung in allen staatlichen Fernsehkanälen – während in Russland selbst Oppositionelle wie Nemzow als „Verräter“, „Fremde unter uns“ diffamiert werden. „Es gibt keinen Putin, der den Befehl zum Mord gibt“, schrieb die Journalistin Xenia Sobtschak am Samstag, aber sehr wohl einen Putin, der die Kontrolle über einen von ihm geschaffenen „Höllenterminator“ verloren habe.
Die Leute auf der Brücke fordern eine „offene Ermittlung“ und eine Bestrafung der Schuldigen. Hoffen sie auch darauf? „Hoffnung gibt es immer“, sagt Nemzows Freund. „Ohne Hoffnung geht es nicht. Auch Boris hoffte.
© AFP, REUTERSVergrößernPutin-Gegner Nemzow in Moskau erschossen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen