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Sonntag, 10. Mai 2015

Dann sagt Merkel – nach kurzem Stocken und wohl unbeabsichtigt – etwas Unerwartetes: Sie nennt die Annexion der Krim durch Russland „verbrecherisch und völkerrechtswidrig“. Erstere Einschätzung wäre ein Novum, denn mit Verbrechern verhandelt man nicht // bemerkenswert und anerkennenswert !!!

Merkel in MoskauKrieg und Erinnerung

Die Bundeskanzlerin gedenkt gemeinsam mit dem russischen Präsidenten des Endes des Zweiten Weltkriegs. Ein berührender Moment der Einheit, der dennoch überlagert wird vom Ukraine-Konflikt.

© APVergrößernEinfache Wünsche an einem erinnerungsschweren Tag: Bundeskanzlerin Merkel und der russische Präsident Wladimir Putin am Sonntag am Grabmal des unbekannten Soldaten in Moskau
Der Alexandergarten erstrahlt in frischem Grün. Blumen blühen, Vögel zwitschern. Doch als das Orchester einsetzt, ist es, als lege sich ein Schatten über den sonnigen Frühlingstag. Es spielt ein getragenes Stück des russischen Armeekomponisten Walerij Chalilow. Der Präsident und die Bundeskanzlerin schreiten auf das Grabmal des Unbekannten Soldaten an der Kremlmauer zu, ganz in Schwarz gekleidet. Vor ihnen werden die Gedenkkränze getragen. Der Soldat fiel an der Stelle, an der die Wehrmacht Moskau im Zweiten Weltkrieg am nächsten kam.
Als beide die Schärpen in ihren jeweiligen Landesfarben über die Rosen gelegt haben, verharren sie einen Moment mit gesenktem Kopf. Das Orchester spielt die Hymnen, erst die deutsche, dann die russische. Dann schreiten Wladimir Putin und Angela Merkel Seite an Seite die Reihe der „Heldenstädte“ der Sowjetunion ab, die besonders im Krieg litten. Es ist ein berührender Moment, ein Bild der Einheit angesichts des Grauens der Vergangenheit. Es ist ein kurzer Moment. Außer der Information, dass sie von Präsident respektive Kanzlerin kommen, steht auf den Schärpen kein Wort.

Gemeinsame Verneigung von Merkel und Putin

Wie sehr dieser gemeinsame Moment des Gedenkens an die Opfer des Krieges ein politischer Kompromiss ist, zeigt sich schon danach, als Merkel und Putin einige einleitende Worte sagen, bevor sie sich zum Gespräch im Kreml zurückziehen. „Wir verneigen uns vor den Opfern“, sagt Merkel. „Wir haben aus bitteren Erfahrungen gelernt, schwierige Situationen – und eine solche haben wir jetzt – mit friedlichen und diplomatischen Mitteln zu überwinden.“ Daher sei es „gut, dass wir die Möglichkeit haben, etwa auch über die territoriale Integrität der Ukraine zu sprechen“. Putin sagt, je schneller die „Probleme“ zwischen Deutschland und Russland „aufhören, die Beziehungen negativ zu beeinflussen, desto besser“. Dann beginnt der geschlossene Teil des Gesprächs. Er wird gut anderthalb Stunden dauern.
Die „Probleme“ haben überhaupt zu dem Kompromiss geführt, der Merkel an diesem Sonntag nach Moskau geführt hat. Sie wollte die vielen Millionen Opfer des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion ehren, ohne der heutigen russischen Militärmacht angesichts des unerklärten Krieges gegen die Ukraine durch einen Besucht der Parade am Samstag Tribut zu zollen. Noch vor fünf Jahren war sie in Moskau gewesen – eine andere, scheinbar ferne Zeit. Nun, kurz vor ihrem Besuch, hatte die kremltreue Zeitung „Iswestija“ unter Berufung auf „Quellen“ über ein mögliches Treffen der Kanzlerin mit der Opposition gegen Putin berichtet. Es ist eine neue Volte der am Stalinismus geschulten „Verräter“-Diffamierung. Kurz darauf hing von einem Gebäude an einer großen Moskauer Straße ein Plakat mit den Köpfen von fünf Oppositionellen auf schwarz-rot-goldenem Grund mit Deutschland-Flaggen auf Wangen und Stirn. Die – anonym bleibenden – Macher sind dieselben, die vor einem Jahr Oppositionelle von einem Plakat als „Fremde unter uns“ wie Außerirdische porträtierten, unter ihnen den Ende Februar ermordeten Boris Nemzow. Dessen Kopf fehlt nun. Auch im Siegestaumel, der die russischen Gedenkfeierlichkeiten durchzog, wurde die Hasskarte gespielt.

Ein Programmpunkt unter vielen

Merkels Besuch in Moskau ist nur ein Punkt von vielen auf Putins Programm an diesem Wochenende. Unmittelbar vor ihrem Besuch hat er den zimbabwischen Langzeitherrscher Robert Mugabe getroffen. Einer von vielen Potentaten, die in Moskau zumindest für das Staatsfernsehen die Abwesenheit der alten Verbündeten und fast aller Staats- und Regierungschefs westlicher Länder gegen NS-Deutschland vergessen lassen. Der größte Trumpf ist der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping, dessen Besuch auch zur Unterzeichnung einer Reihe von Abkommen genutzt wurde. Am Samstag, bei der großen Militärparade auf dem Roten Platz, saß Xi dann mit seiner Frau rechts neben Putin vor dem Lenin-Mausoleum. In Putins Rede gab es eine Schweigeminute für die Opfer; die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa hatte den Präsidenten in einem offenen Brief dazu aufgefordert.
Putin würdigte in seinem Grußwort zwar „den Beitrag“ der Amerikaner, Briten und Franzosen sowie der „Antifaschisten aller Länder“, auch Deutschlands, zum Sieg. Doch warf er den Vereinigten Staaten – ohne sie direkt beim Namen zu nennen – zum wiederholten Mal vor, eine „monopolare“ Welt anzustreben. Vor zehn Jahren, beim Gedenken an den 60. Jahrestag des Kriegsendes, wirkte der Umgang zwischen Putin und dem damaligen amerikanischen Präsident George W. Bush gelöst, fast freundschaftlich. Obwohl es da schon „Farbenrevolutionen“ in Georgien und der Ukraine gegeben hatte. Obwohl unter anderen die baltischen Staaten, Rumänen und Bulgarien ein gutes Jahr davor der Nato beigetreten waren. 2005 fand auch noch keine Militärparade statt. Erst drei Jahre später rollten wieder Panzer über den Roten Platz.

Perfekte Inszenierung

Die Parade dieses Jahres – die zweite nach der Annexion der Krim, dem Beginn des unerklärten Krieges gegen die Ukraine und den westlichen Sanktionen – bot eine perfekte Inszenierung russischer Militärmacht. Mehr als 16.000 Soldaten zogen über den Platz, unter ihnen solche aus Gastländern wie China und Indien. Neue gepanzerte Fahrzeuge und der von Russland gefeierte T-14-Panzer rollten über den Platz. Auch Raketen aus der Gattung der „Buk“, die durch den Abschuss von Flug MH17 bekannt wurde. Hier hielt sich der Sprecher, der den Zuschauern ansonsten mit Blick auf die Errungenschaften der Waffen und der Einheiten der Soldaten keinen Triumph verschwieg (eine Einheit habe die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl „minimal“ gehalten), knapp.
Anders bei den drei gewaltigen Interkontinentalraketen vom Typ „Jars“, der „Grundlage“ mobiler russischer Nuklearstreitmacht. Eindrucksvoll auch die Schau von mehr als 140 Hubschraubern und Flugzeugen. Die letzten färbten den Himmel in die Farben der russischen Trikolore. Am Nachmittag zog Putin mit Tausenden Russen durch Moskau, die Bilder von Verwandten in den Händen hielten, die im Krieg gekämpft hatten. „Unsterbliches Regiment“, hieß die Aktion; sie geht auf eine Initiative eines kleinen, unabhängigen Fernsehsenders aus der Stadt Tomsk zurück, der mittlerweile seine Lizenz verloren hat. Nun ist sie Teil des offiziellen Gedenkreigens geworden.

Friedlicher Wandel oder Katastrophe?

Am Sonntagnachmittag dann treten Merkel und Putin vor die Presse. In dem kleinen Saal im Kreml ist es heiß und eng. Als Erstes spricht der Gastgeber von dem „schwierigen Weg“ zwischen Deutschland und Russland nach dem Krieg, der von „bitteren Beleidigungen“ zu gegenseitigem Verständnis und Zusammenarbeit geführt habe. Die heutige Zeremonie erinnere daran. Man erkenne die „ehrlichen Worte“ der Kanzlerin zu den „Verbrechen des faschistischen Deutschlands“ und den Opfern an. Dann beginnt Putin, ähnlich wie in seinen Reden zur Lage der Nation und in seien jährlichen Frage-und-Antwort-Sendungen im Staatsfernsehen, eine Aufzählung etlicher Daten zur Wirtschaftszusammenarbeit beider Länder. Putin sagt, man habe schon unter viel schwierigeren Bedingungen zusammengearbeitet, womit er bei den unterschiedlichen Beurteilungen zum „verfassungswidrigen Umsturz in Kiew“ ist.
Mit Blick auf den Donbass bringt Putin ein neuerliches Bekenntnis zum Friedensprozess von Minsk dar. Dann spricht die Kanzlerin. Wieder erwähnt sie, wie wichtig es sei, das Andenken der Toten des „Rassen- und Vernichtungskriegs“ zu ehren. Sie erwähnt die Opfer der Blockade Leningrads, die Häftlinge der Konzentrationslager, die Kriegsgefangenen, den „Krieg der verbrannten Erde“. Sie dankt den sowjetischen Soldaten und nennt neben den russischen ausdrücklich auch ukrainische und weißrussische. Im Lob des „friedlichen Wandels in der Sowjetunion“, der den Völkern Osteuropas die Freiheit gebracht habe, offenbart sich eine weitere Meinungsverschiedenheit mit Putin, zu dem in diesem Zusammenhang stets das Ende der Sowjetunion als „Katastrophe“ zitiert wird.
Dann sagt Merkel – nach kurzem Stocken und wohl unbeabsichtigt – etwas Unerwartetes: Sie nennt die Annexion der Krim durch Russland „verbrecherisch und völkerrechtswidrig“. Erstere Einschätzung wäre ein Novum, denn mit Verbrechern verhandelt man nicht, während Merkel immer wieder und auch an diesem Tag hervorhebt, eine Lösung der Krise „gegen Russland“ könne es nicht geben. Putin verzieht keine Miene. Merkel erwähnt auch den syrischen Bürgerkrieg, in dem Moskau weiterhin Diktator Baschar al Assad unterstützt. „Eigentlich erwartet die Welt, dass wir die Schwierigkeiten gemeinsam lösen“, sagt die Kanzlerin. Ein schlichter Wunsch nach schwerem Gang.

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