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Dienstag, 29. März 2016

NZZ: Neue Hoffnungen für Argentinien Präsident Macri pflügt das Land um Dem neuen Präsidenten Mauricio Macri gelingt ein Etappensieg nach dem anderen. Argentinien könnte wieder eine Vorreiterrolle in Südamerika einnehmen. Doch Macris Strategie ist riskant.

Neue Hoffnungen für Argentinien
Präsident Macri pflügt das Land um

Dem neuen Präsidenten Mauricio Macri gelingt ein Etappensieg nach dem anderen. Argentinien könnte wieder eine Vorreiterrolle in Südamerika einnehmen. Doch Macris Strategie ist riskant.
  • von Alexander Busch, Buenos Aires

Argentiniens Präsident Macri gibt vielen Argentiniern Hoffnung auf einen Wandel. (Bild: Reuters)

Argentiniens Präsident Macri gibt vielen Argentiniern Hoffnung auf einen Wandel. (Bild: Reuters)



Es könnte ihm kaum besser gehen: Die Kanzlei des deutsch-argentinischen Wirtschaftsanwalts Martin Jebsen ist voll ausgelastet. Unternehmen aus dem Ausland wollen die Marktchancen in Argentinien unter dem neuen Präsidenten Mauricio Macri sondieren, der im Dezember des letzten Jahres sein Amt angetreten hat. Die 50 Mitarbeiter von Jebsen & Co. mussten ihre Sommerferien verschieben. Für vier neue Unternehmen aus den Branchen Elektronik und Bau hat Jebsen in den letzten Wochen Filialen in Argentinien gegründet. Sie wollen dort ihre regionalen Zentren für ihre Südamerika-Expansion aufbauen.

Firmen zieht es ins Pampaland

Bis vor kurzem machten Investoren und Unternehmen um das Pampaland einen grossen Bogen. Auch Jebsen hat jahrelang abgeraten, sich dort niederzulassen. Er war mehr beschäftigt, Firmen zu schliessen, als neue zu öffnen. Jetzt aber gehe es jeden Tag ein Stück weiter in die richtige Richtung, freut sich der Berater. In sechs Monaten werde Argentinien nicht mehr wiederzuerkennen sein. Dennoch wurmt ihn der plötzliche Aufschwung in Argentinien: Er wache jeden Morgen auf und ärgere sich, dass er nicht 25 Jahre jünger sei, sagt der siebzigjährige Jebsen. Den Boom würde er noch einmal gerne voll mitmachen.
Es ist rund 100 Tage her, dass Mauricio Macri in den Präsidentenpalast von Buenos Aires einzog. Und schon hat er unter den Argentiniern Euphorie entfacht. Nach den lähmenden Jahren der Kirchner-Ära, die durch Wahlen Ende vergangenen Jahres beendet wurde, scheint an der Staatsspitze plötzlich jemand willens und fähig, das Land zu neuer Blüte zu führen. Macri setzt systematisch um, was er im Wahlkampf versprochen hat: Mit einem Kabinett, das vor allem aus ehemaligen Managern, Investmentbankern und Politikern mit internationalen Karrieren besteht, gab er kurz nach Amtsantritt den Wechselkurs des Peso frei, der sich daraufhin um 30% abwertete. Ebenfalls noch im Dezember schaffte Macri die Devisenkontrollen ab. Er öffnete das Land für den Handel und reduzierte die Exportsteuern auf Agrarprodukten.


Selbst die verfahrene Frage der internationalen Schulden Argentiniens hat Macri überraschend schnell gelöst. Nach elf Verhandlungsrunden stimmten die Hedge-Funds um den Investor Paul Singer einem Angebot Argentiniens zu – 15 Jahre nachdem das Land mit dem Zahlungsstopp auf 100 Mrd. $ ausländischen Verpflichtungen eine der grössten Schuldenkrisen weltweit ausgelöst hatte. Argentinien hat den Finanzinvestoren Zahlungen in Höhe von 4,7 Mrd. $ zugesagt. Das entspricht 75% der ursprünglich von den Fonds geforderten Summe. Derzeit gelingt es ihm überraschend schnell, die Gesetzesvorlage für die Zahlung an die Gläubiger-Fonds durch den Kongress zu bringen – obwohl er dort nicht über die Mehrheit verfügt. Macri dürfte innerhalb von drei Monaten die 15 Jahre währende Isolation des Landes von den internationalen Finanzmärkten beendet haben. Das nach Brasilien wirtschaftlich zweitwichtigste Land Südamerikas könnte damit wieder eine entsprechende Rolle auf dem Kontinent spielen – wie zuletzt in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts.

Keine Schimpftiraden mehr

Dante Sica empfängt in einem eleganten Büro mit einem spektakulären Blick über das renovierte Hafenwohnviertel Puerto Madero. Der ehemalige Industrieminister ist heute einer der führenden Wirtschafts- und Politik-Berater Argentiniens. Er staunt über Macris forsches Reformtempo. Seine Entscheidungen überraschten zudem durch die Effizienz, mit der er sie umsetze, sagt er. «Uns ist schwindelig nach so vielen Veränderungen in so kurzer Zeit», sagt Sica.
Macris Vorgehen unterscheidet sich radikal von dem, was die Argentinier in den vergangenen zwölf Jahren erst unter Präsident Néstor und danach unter dessen Gattin Cristina Kirchner von der Politik gewohnt waren. Die Ex-Präsidentin hat in ihren zwei Amtsperioden das Land heruntergewirtschaftet, den Staatshaushalt ausgequetscht, die Notenpresse angeworfen, das Land von der Welt isoliert und die Gesellschaft gespalten. Immer wieder äussern sich in Buenos Aires dieser Tage die unterschiedlichsten Menschen erleichtert darüber, nicht mehr die endlosen Schimpftiraden der Präsidentin bei den fast täglichen, obligatorischen TV-Sendungen ertragen zu müssen. Und man merkt die Änderungen im Alltag: Kirchner liess etwa keine grösseren Scheine als die 100-Peso-Note ausgeben, um die Inflation zu vertuschen. Mit einem solchen Schein kann man inzwischen nicht einmal mehr eine Pizza kaufen. Inzwischen bezahlen die Argentinier wieder wie selbstverständlich mit Kreditkarte, statt ständig daumendicke Bargeldbündel mit sich herumzutragen.

Manipulierte Inflationszahlen

Bis vor drei Monaten wollten die Unternehmen vor allem wissen, wie hoch die Inflation ausfallen werde und ob sie importieren dürften, erklärt Sica. Die Regierung manipulierte die Inflationsdaten wie auch die Wachstumszahlen. Erhebungen über Armut schaffte sie ganz ab – vorgeblich, um die sozial Benachteiligten nicht zu diskriminieren. Importlizenzen erteilte das zuständige Ministerium nach unerfindlichen Kriterien. Doch das habe sich geändert. Firmen wollten jetzt strategische Beratung, um den Markt zu erschliessen.
Unter den wachstumsschwachen Emerging Markets könnte Argentinien schon bald durch seine neue Dynamik überraschen. Sica ist optimistisch: Das Land werde dann die Rolle übernehmen, die Brasilien zuletzt in Südamerika spielte. Eineinhalb Jahrzehnte ist in Argentinien kaum investiert worden. Die Unternehmen sind kaum verschuldet, weil sie keine Kredite mehr bekamen. Die private Verschuldung beträgt gerade einmal 7% der Wirtschaftsleistung. Anders als viele Schuldennationen hat Argentinien mit einer hochmodernen Landwirtschaft eine solide Devisenquelle, um Kredite zurückzahlen zu können. Deswegen will Macri sich auch möglichst schnell mit den ausländischen Gläubigern einigen: Die Volkswirtschaft braucht dringend Investitionen aus dem Ausland, um Projekte in den Bereichen Infrastruktur, Energie und Telekom zu finanzieren. Ein neues Mediengesetz soll ausserdem TV, Internet und Telekom enger zusammenwachsen lassen. Von den Investoren und Projekten erhofft man sich Jobs sowie die Ankurbelung der stagnierenden Wirtschaft.
Die Achillesferse von Macris Plan ist einerseits die Inflation: Denn sollte die bereits jetzt mit 25% bis 30% hohe Teuerung explodieren, dann wäre auch der Wettbewerbsvorteil des abgewerteten Peso schnell wieder neutralisiert. Die jüngsten Verhandlungen mit den Lehrer- und Transportgewerkschaften um Lohnerhöhungen sind entsprechend schwierig. Deren Vertreter verlangen Zulagen von bis zu 40%. Doch Macris Minister zeigen sich kompromissbereit. Man will vermeiden, dass Streiks das Land lähmen. Nichts wäre verheerender für den zarten Aufschwung als eine negative Stimmungslage und eine verbreitete Ansicht, wonach ausländische Gläubiger ihr Geld bekämen, einfache Argentinier aber nicht.


Deswegen toleriert Macris Finanzminister vorerst eine höhere Teuerung, als die Wirtschaft sich wünscht. Die Regierung werde die nächsten Monate auf die Notenpresse angewiesen sein, um das Haushaltsdefizit zu finanzieren, sagt Sica. Der Zentralbankpräsident wiederum will die Geldmengenexpansion auf 25% beschränken. Macri pokere hoch, sagt Sica. Es sei wie ein Puzzle: Wenn ein Teil fehle, dann könnte das ganze Werk scheitern. Entscheidend wird sein, ob es Macri gelingen wird, die unter Kirchner gespaltene Gesellschaft zu vereinen. Unter seiner Vorgängerin sind die Argentinier ein Volk von Sozialhilfeempfängern geworden. Schätzungsweise 40% der Argentinier bekommen in irgendeiner Form Staatshilfe. Macri will die Sozialhilfe für die Armen nicht abschaffen. Das wäre sein politischer Selbstmord. Aber er hat bereits die Subventionen für Strom gestrichen, von denen tatsächlich eher die Wohlhabenden profitierten. Bald sollen die Transportsubventionen aufgehoben werden. Das ist sozial sensibel. Die Reichen fahren eben Auto, wenn die Busse teurer werden.

Stimmung kann schnell kippen

Die meisten Argentinier überrascht, dass Macri politisches Gespür beweist. Trotz seinen zwei Amtszeiten als Bürgermeister von Buenos Aires hat man das dem Zögling aus der Oberschicht und ehemaligen Unternehmer nicht zugetraut. Doch Macri bindet überraschend erfolgreich die Opposition ein. Er sucht den permanenten Kontakt mit den peronistischen Gouverneuren. Er hat den angesehenen Technologieminister Kirchners in sein Kabinett übernommen. Es gibt keine Massenentlassungen in den Ministerien. Er braucht die Stimmen der Opposition im Kongress. Die Chancen stehen jedoch gut, dass auch oppositionelle Gouverneure, Abgeordnete und Senatoren mit Macri stimmen. Sie brauchen Zuschüsse aus dem Staatsbudget, um regieren zu können.
Linke Meinungsführer in den Medien und Parteien versuchen den Präsidenten als kalten neoliberalen Reformer hinzustellen. Aber bis jetzt finden sie wenig Rückhalt. Macri hat die Wahlen knapp gewonnen, aber heute urteilen fast 70% der Bevölkerung positiv über ihn. Dennoch nimmt die Kritik an der Wirtschaftspolitik und an seinem Kampf gegen die Drogenkriminalität zu. Die Stimmung kann schnell kippen.
Macri fahre eine vielversprechende, aber hochriskante Strategie, urteilt Mohamed El-Erian, Ex-Chef von Pimco und Mitglied im International Executive Committee der Allianz. Selten hätten Regierungen solch grundsätzliche Massnahmen mit einer solchen Dynamik umgesetzt. Macri müsse jetzt zusätzliche Ressourcen im Inland aktivieren und die Strukturreformen vertiefen. Wenn ihm das gelinge, dann könnte diese mutige Wirtschaftsstrategie zu einem Modell für andere Länder werden, prophezeit El-Erian. Scheitert Macri dagegen wegen falschen Timings oder politischen Widerstands, könnten andere Länder umso mehr zögern, sich zu öffnen und ihre Währung vollständig zu liberalisieren. Die politische Verwirrung, die daraus entstünde, wäre schädlich für die gesamte Region.

Der Diplomat im 12. Stock atmet auf

bu. Buenos Aires ⋅ Argentinien wird nach Jahren des Konfrontationskurses lange brauchen, um international wieder ernst genommen zu werden. Das wissen seine Diplomaten am besten. Argentinien müsse jetzt seine Hausaufgaben machen, um Vertrauen zu schaffen, sagt Edgardo Malaroda, der im Ministerium für Aussenbeziehungen für Europa zuständige Direktor. Es gebe jedoch einen klaren Zeitenwechsel vor und nach dem Regierungswechsel in der Aussenpolitik. Wer ihn im modernen Diplomaten-Hochhaus neben dem altehrwürdigen Aussenministerium aufsucht, bekommt den Politikwechsel hautnah mit: «Zu wem wollen Sie?», fragt die Empfangsdame mürrisch. Im Foyer demonstrieren Beamte des Ministeriums gegen ihre Entlassungen, auch die Dame von der Rezeption dürfte angesichts ihrer Laune zu ihnen gehören. Doch je mehr Etagen man im Ministerium erklimmt, umso mehr geht es um Diplomatie und weniger um Innenpolitik. Bei Malaroda im zwölften Stock steht das Telefon nicht still. Nach den Präsidenten Renzi und Hollande hat nun Barack Obama Buenos Aires besucht. Macri wird im Ausland bereits als Hoffnungsträger im kriselnden Südamerika hofiert. Das ist Balsam für das angeschlagene Selbstbewusstsein der Argentinier nach der langen Isolation von der Weltpolitik. Argentinien wolle wieder mit den USA und Europa kooperieren, sagt er. Mit der Schweiz sei der Kontakt über die Jahre nie abgebrochen, erklärt Malaroda. Deswegen konnte jetzt auch das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Bern und Buenos Aires in Kraft treten. Malaroda, der als Wirtschaftskonsul in Bern stationiert war, organisierte jahrelang Argentiniens Teilnahme am World Economic Forum. Doch ab 2003 glänzte Argentinien dort durch Abwesenheit. Keiner der Kirchners ist je nach Davos gereist.



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